schostakowitsch    
 


100 Jahre Dimitri Schostakowitsch: 2006

Retrospektive-Perspective
SCHOSTAKOWITSCH
Neuentdeckung-Neubewertung?

von Eberhard Kloke Berlin, Stand: März 2005

 
 


Ausgangspunkt + Fragestellung

Schostakowitschs Musik hat seit einiger Zeit in den Musik-Programmen des öffentlichen Musiklebens in (West-) Europa einen immer größer werdenden Raum eingenommen.

Dabei hat die quasi Neuentdeckung von Schostakowitsch weniger mit aktuellen, musikwissenschaftlichen Erkenntnissen am Werk oder mit der üblicherweise verspäteten Vereinnahmung durch den Musikbetrieb ("posthum") zu tun als mit der Erkenntnis, Werk und politische Implikationen in noch engerem Bezug sehen und hören zu müssen.

Die Neuentdeckung hängt also direkt mit einer Neubewertung der Musik in ihrem historischen und politischen Kontext zusammen. Faszinierend ist dabei, dass das kompositorische Lebenswerk einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren, vom Anfang der zwanziger Jahre bis 1975.
Dies entspricht dem politischen Zeitraum, der von Lenins Tod (1924) über Stalin, Chruschtschow bis hin zu Breschnew   (Unterzeichnung der Schlussakte der KSZE in Helsinki, 1975) reichte.

Untersucht werden soll die zentrale Frage nach Veränderungsprozessen in der Innen- und Außenwelt eines Menschen, die Frage nach individuellen, persönlichen und künstlerischen Antworten auf (mehrfach!) politisch herbeigeführten, radikalen Strukturwandel.

Schostakowitsch
Retrospektive - Perspective sucht also hinsichtlich der künstlerischen und gesellschaftlichen Gesamtkonstellation nach Konsequenzen und klärenden Antworten im und zum Werk Dimitri Schostakowitschs.

Es ist intendiert, mit exemplarischen Werken aus unterschiedlichen zeitlichen Perioden programmatisch die Verflechtung und Spannung zwischen offizieller Musikpolitik (mit allen damit verbundenen Repressalien) und Schostakowitschs persönlich-authentischer Musik-Sprache auszuloten:

Dabei werden auch bestimmte "westliche" Komponisten im Kontext  ihrer real-politischen und biographischen Situation vorgestellt und deren Kompositionen mit Schostakowitschs Musik in einen lebendigen Bezug gebracht.

Schostakowitschs Verfahren, mit einer zweiten Ebene zu sprechen, z. B. Volkstümlichkeit und Verständlichkeit als Fassade zu brandmarken, die Anpassung an die herrschende oder verordnete Ästhetik als Schein zu entlarven, ist zugleich das Moderne + Authentische seiner Musiksprache.

  • Repetitive Anwendung von Folklore-Elementen,
  • orgiastische Primitivismen,
  • marionettenhaft anmutende, mechanische Bewegungsschablonen

werden zu Bildern des Zwanges und somit der "Zwangsverhältnisse", unter denen das Leben stand, verweisen aber auch auf Verblendungszwänge einer heutigen, sich "modern" nennenden Gesellschaft.
Die übertriebene Verwendung musikalischer Klischees lässt kontrastscharf dagegen gestellte Anklage/Klage-Musiken noch härter und bedrohlicher erscheinen.

Schostakowitsch setzt auf die unmittelbare Assoziationsmöglichkeit und -fähigkeit seiner Hörer, die trotz oder gerade wegen der Doktrin des Sozialistischen Realismus virulent vorhanden waren.

Diese Musik programmatisch zu schärfen - was bedeuten würde, sie in einen internationalen historischen wie auch gegenwärtigen Kontext zu stellen und in "pointierten" Orten und Räumen zu platzieren - ist die Herausforderung und Chance einer neuen Schostakowitsch-Rezeption.
Nicht zuletzt geht es um Würdigung der Unbeugsamkeit einer der wegweisenden Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.

Literaturhinweise

Programmanwendungsbeispiel: Programm zum 100. Geburtstag von DSch